CH-8400 Winterthur: Stippvisite in die Neuzeit

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Stadthaus, erbaut von Gottfried Semper, mit roter und gelber Giesskanne

Wir wollten einen Einkauf im nahen Flaach nur mal schnell benutzen, um nachzusehen, ob am gemeinsamen, alten Studienort immer noch dieselben, alten Labortische stehen: sie stehen immer noch. Für mich schaute zusätzlich noch ein kleiner Besuchsbericht heraus.

Anfangs des 19. Jahrhunderts wurden in und um Winterthur mehrere Firmen gegründet, die das Kleinstädtchen an der Eulach in das Industriezeitalter beförderten. Eine chemische Fabrik, die Maschinenfabrik Rieter, Spinnereien, 1834 die Eisengiesserei Johann Jacob Sulzer, später die Schweizerische Lokomotiv- und Maschinenfabrik (SLM).

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Der Kunst und Wissenschaft geweiht

Die veralteten militärischen Schanzen wurden um 1800 eingeebnet, später die vier nach Nord-Süd ausgerichteten Tortürme abgebrochen. Nun durfte sich die Bau- und Erweiterungswut ausserhalb der Stadtmauern austoben und der Stadt einen markanten Wachstumsschub bescheren. 1865 wurden dann auch noch die letzten vier, an der West-Ost-Achse gelegenen Tore, dem Durchgangsverkehr geopfert.

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Marktgasse

Seit 1467 die ehemalige Kyburgerstadt Winterthur durch die Habsburger an die Zürcher verpfändet wurde, war das Verhältnis der beiden Städte getrübt. Jahrhundertelang liess das starke Zürich die Unterlegenen ihre Übelegenheit durch Schikanen aller Art fühlen. Winterthur wurde in der Neuzeit aber immer bedeutender und entwickelte sich zu einer Wirtschaftsmacht. Innerhalb weniger Jahre vervielfachte sich die Einwohnerzahl (heute ca. 100’000). Die Stadt versuchte, sich durch mächtige private und öffentliche Repräsentationsbauten von Zürich abzugrenzen, so zum Beispiel mit dem Stadthaus, das vom berühmten Architekten Gottfried Semper (der mit der Semper-Oper in Dresden) erbaut wurde.

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Museum am Stadtgarten

Politisch stand Winterthur in Opposition zum Wirtschaftsliberalismus von Zürichs. Die Winterthurer Demokraten versuchten, mit einer eigenen Eisenbahngesellschaft (Schweizerische Nationalbahn) eine Paralell-Linie vom Bodensee bis zum Genfesee zu bauen. Die Absicht, Zürich ins Abseits zu setzen, scheiterte aber am Widerstand des Zürcher Eisenbahnkönigs Alfred Escher und dessen Nordostbahn.

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Haus zur Gedult in der Altstadt

Die zunehmend starke Industrialisierung von Winterthur führte zu Eingemeindungen umliegender Dörfer. Das Gesicht der Stadt veränderte sich zu einer Arbeiterstadt. Der grösste Teil der Arbeitsplätze war abhängig von der Metall- und Maschinenindustrie. Die Wirtschaftskrise 1930 traf die Stadt denn auch besonders hart, die Krise wurde jedoch im Konsens zwischen Sozis und Demokraten ohne grössere, politischen Grabenkämpfe ausgestanden. Nach dem zweite Weltkieg erfuhr Winterthur eine zweite Blütezeit, die aber mit der zunehmenden Globalisierung ein rasches Ende fand. Der damit einhergehende Abbau des industriellen Sektors führte zu einem starken Abbau der Arbeitsplätze, der jedoch zu einem guten Teil durch den Wandel zu einer  Dienstleistungs- und Handelsstadt aufgefangen werden konnte.

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Stadtkirche St. Laurentius. Dumme Perspektive, die Kirche hat zwei Türme

Die Altstadt besitzt die grösste zusammenhängende Fussgängerzone der Schweiz. Winterthur verfügt über eine bemerkenswerte Dichte an herausragenden Kulturinstitutionen, die teils von wohlhabenden Mäzenen aus Handel und Industrie begründet wurden. U.a. das Kunstmuseum, das Fotomuseum, das Museum Reinhart und die Sammlung Oskar Reinhart am Römerholz. Etwas ausserhalb liegt das Technorama, ein Museum über Technik und Wissenschaft zum Anfassen.

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Rathauspassage
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Einkaufsparadies Markthalle am Schluuch (Marktgasse)

Wo einst Schiffsdieselmotoren und andere Spitzenerzeugnisse der Schweizer Maschinenindustrie gebaut wurden, sind nun Lofts, Trendsportanlagen, Kartbahnen, Kultur, Kultuur, nochmals Kultuuhr und die dazugehörigen Lokale, Einkaufszentren und andere Freizeiteinrichtungen zu finden. Wo einst hart gearbeitet wurde, werden Dienstleistungen angeboten, wird gehandelt. Arbeiten lässt man in China. Ein Staat, in dem nur noch gehandelt und konsumiert, statt produziert wird, schafft auf die Dauer keinen Mehrwert für eine Volkswirtschaft. Siehe Griechenland. Die goldenen Zeiten sind vorbei, auch wenn das abgestellte Fahrrad anderes suggerieren möchte. Ich habs mir verklemmt, eine Speiche mitzunehmen. Wenn das ein jeder tun würde.

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Wohlstand: güldenes Veloziped

Die Sempersche Treppe zum Stadthaus, einst Sinnbild für den wirtschaftlichen Aufstieg, kann auch andersherum interpretiert werden. Oder sehe ich das nur zu pessimistisch ?

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Aufstieg oder Abstieg ?

Quellen:
Winterthur wiki

7 Kommentare zu „CH-8400 Winterthur: Stippvisite in die Neuzeit“

  1. Schönes Winterthur! Das Bild von der Rathauspassage gefällt mir besonders.

    Du meinst, die Schweiz schafft es als einziges Land in Europa an der Wirtschaftskrise vorbei? Also das wäre sehr optimistisch… Deutschland tut ja nur so als ob…

  2. Nicht nur der gesamte Fotobericht gefällt mir gut, sondern besonders die Gießkannen 😉 die den strengen Klassizismus (?) etwas auflockern, ebenso wie die kleinen eingestreuten Sätze zur Wirtschaftslage …

  3. Aufstieg oder Abstieg? Gute Frage! Für mich sieht es nicht so aus, als ob es da in nächster Zeit eine Aenderung gibt. Ich glaube eher der Trend zur Dienstleistungs- und Handelsgesellschaft hält weiter an. Ob wir damit eher am auf- oder absteigen sind, werden wir ja bestimmt früher oder später am eigenen Leib erfahren … müssen… grossen Einfluss können wir dazu ja nicht nehmen, so wie ich das sehe.
    Die Bilder sind wieder ganz toll! In dieser wunderschönen zusammenhängenden Fussgängerzone wäre es bei der Hitze bestimmt sehr angenehm ein kühles Glas Wasser zu geniessen.

  4. Bestimmt werden die Schweizer einen Ausweg aus der Krise finden. Man sieht ja bereits, dass guter Rad teuer ist 😉

  5. @Micha: Wenn alle im Strudel versinken, werden auch wir mitgezogen. Es sei denn, Deutschland rettet uns.

    @april: ich hätte die Giesskannen gerne grösser gehabt.

    @Pepe Nero: die Rechnung wird am Schluss präsentiert. Dann, wenn sie niemand mehr bezahlen kann.

    @the rufus: nach dem essen von Schokoladeneis sehen manche Leute so aus.

    @lieberlecker: mit zwei Händen gehts einfacher als mit Grosscomputern.

    @bee: bestimmt. Wir bohren noch ein weiteres Loch in den Gotthard. Das hilft gegen Krisen.

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