Wie verdorrte Friedhofs-Chrysanthemen liegen die Artischocken auf dem Teller. Doch knusprig-köstlich. Vor 35 Jahren im Ristorante al Pompiere im Rione Sant‘ Angelo, dem Ghetto ebraico in Rom, zum ersten Mal, seither -leider- nie wieder, gegessen. Immer wieder wollte ich sie zuhause nachbacken und immer wieder hat mich das Fritieren davon abgehalten. Bis letzte Woche, als mich der Italiener ums schiefe Eck beim Kauf frischer carciofi romaneschi scherzhaft als „giovanotto“ ansprach. Giovanotto? Wo doch meine verbleibende Lebenszeit Tag für Tag weniger wird. Die Zeit mir zwischen den Fingern zerrinnt. Deswegen: Jetzt oder Nie!
Nach jüdischer Art (alla giudia) werden sie in Olivenöl frittiert. Das Rezept ist seit dem 16. Jahrhundert in römischen Rezeptbüchern dokumentiert. Mit dem 1492 von Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragón erlassenen Edikt begann die Vertreibung einer Bevölkerungsgruppe, die seit Jahrhunderten auf der iberischen Halbinsel ansässig war. Wer nicht wegziehen wollte, musste zum Christentum konvertieren und geriet unter Generalverdacht der spanischen Inquisition, dem jüdischen Glauben noch anzuhängen. Viele der spanischen Juden (Sephardim) zogen das Leben in der Stadt Rom dem öffentlichen Autodafé der spanischen Inquisition und dem bei Häretikern meist verhängten Verbrennungstod auf dem Scheiterhaufen vor. Sie brachten ihre eigenen und spanische Kochtraditionen als Bereicherung mit in die römische Küche.
Carciofi alla giudia

Zutaten und Zubereitung
p.P. eine Artischocke aus dem Lazio, cimaroli oder mammole
Salz
Pfeffer
1-1.5 L Olivenöl ein gutes, jedoch keine Boutiquevariante
Für Selten- und Niefrittierer (wie mich) hab ich all die kleinen tricks aufgeschrieben:
(1) Einen kleinen, hohen Topf mit mind. 1 L Olivenöl auf 140°C erwärmen. Währenddessen die Artischocken (mit Gummihandschuhen) rüsten:
(2) Erst die äusseren Blätter rundum abknicken (geht das leicht, sind sie frisch). Einfacher geht das mit einer Schere, Blattspitze um Blattspitze wird weggeschnitten. Dabei den Schnitt der versetzten Blattlage entsprechend rundum immer höher ansetzen, bis die hellen Innenblätter frei liegen. Danach den obersten Teil der Blattkrone wegschneiden. Den Stiel frisch anschneiden und den äusseren, faserigen, grünen Mantel bis knapp ans hellere Mark wegschneiden. Mit einem Sparschäler noch ein wenig nachputzen (dunkelgrüne Stellen sind faserig). Bei Bedarf mit einem spitzen Teelöffel das Heu vom Bodeninneren kratzen, was aber bei jungen carciofi noch kaum nötig sein wird.
(3) Artischocke auf der Tischfläche mit Druck der Handfläche ein paar mal hin und her rollen, das löst die Blätter voneinander und erleichtert das spätere Aufspreizen der Blüte.
(4) sofort in ein Wasserbecken mit 1 TL Ascorbinsäure oder dem Saft einer halben Zitrone legen, damit sie nicht anlaufen.
(5) Vor dem Fritieren die Artischocke kräftig gegen die Wand des leeren Spülbeckens schlagen, damit alles Wasser herausfliesst. Danach mit Küchenpapier innen und aussen trockentupfen.
(6) Blüte nach unten in das heisse Öl stellen, der Stiel taucht zunächst nicht ein. 3-5 Minuten fritieren. Die anfritierte Artischocke anschliessend flach in den Topf legen, so dass auch der Stiel gar wird.
(7) Nach insgesamt etwa 6-10 Minuten(* Nadelprobe) entnehmen, innen und aussen salzen und pfeffern, auf Küchenpapier beiseitestellen und weitere Artischocken auf gleiche Weise vorfritieren.
(8) Das Öl auf 180°C aufheizen. Die Blüte mit einer Gabel aufspreizen und wiederum nach unten in das heisse Öl stellen. Nachfritieren bis die Blätter hellbraun und kross sind.
(9) Angeblich soll das Aufspritzen von Wasser die Blätter noch krosser machen. Dazu Schutzbrille anziehen, mit einer Zange die Artischocke zwischendurch aus dem Öl heben und mit einer Sprayflasche 2 Stösse Wasser in die Blüte sprayen. Nie und nimmer direkt Wasser in das heisse Öl spritzen.
(10) Herausnehmen, auf Küchenpapier abtropfen lassen.
Nun darf man die Blätter abzupfen… jedes Blatt köstlich. Den Boden gibts zum Schluss obendrauf. Dazu braucht es keine mitteleuropäischen Dips. Nein. Carciofi alla giudia sind keine verwelkten, Tod kündende Chrysanthemen. Wenn Artischocken Blüten ansetzen, werden die Tage länger, wird es Frühling, das Leben lockt. Chrysanthemen hingegen setzen erst Blüten an, wenn die Nächte länger als die Tage werden. Mehr Artischocken bitte! Der Friedhof kann warten, yours truly Giovanotto.
(*) Wie lange das fritieren geht, hängt von der Ölmenge ab, je mehr Öl, desto weniger kühlt es nach Zugabe der Artischocke ab, desto schneller geht es.
ciao giovanotto. grazie für deinen lustigen und interessanten artikel. bin eine gelegentliche frittiererin und bin somit erfreut über das rezept.
👋🏼❤️🐝
Gelegenheit macht Frittiererin 🙂
Entr’esso il tuo Apollo, sgozzato da me,
gettar dovrò al fiume.
Noch so ein giovanotto, lieber rufus:
Vorbildlich ausgeführt und erklärt, rufe ich aus Rom!
Danke, Hande! Das lass ich mir auf die Visitenkarte drucken 🙂
Dieses Viertel gibt es immer noch und das Gericht auch. Lecker! Liebe Grüße Maria